Wissenschaft wird einseitig und abgehoben vermittelt, sagt der ehemalige Neurobiologe Giovanni Pellegri. Das will er mit l’Ideatorio in Lugano ändern.

Text: Nina Merli / Fotos: Giovanni Pellegri

«Es ist uns wichtig, kein klassisches Wissenschaftszentrum zu sein. Wir wollen nicht die Wissenschaften erklären, sondern einen Begegnungsort schaffen, wo die Besucher ihr eigenes Wissen einbringen und diskutieren. Wir legen den Fokus nicht nur auf das Wissen, sondern zeigen, was wir alles noch nicht wissen. Die ursprüngliche Idee unserer Denkwerkstatt Ideatorio geht ins Jahr 2005 zurück. Damals erhielten wir durch Science et Cité die Möglichkeit, ein Wissenschafts- Festival zu organisieren. Ich ging also zur Stadtverwaltung, sass mit Politikern und Bildungsverantwortlichen zusammen, und gemeinsam stellten wir ein Festival für ein breites Publikum auf die Beine. Statt uns auf abgehobene Themen zu versteifen, brachten wird die Wissenschaft unters Volk. Aus diesem Event entwickelte sich dann das Ideatorio, ein regionaler Ableger von Science et Cité, das an der Universität der italienischen Schweiz angesiedelt und von den Schulen der Stadt Lugano unterstützt wird.

Das Interesse ist gross: Rund 150 000 Menschen haben schon an unseren Veranstaltungen teilgenommen, jährlich organisieren wir Workshops für 400 Klassen. Dieses Jahr bekommen wir einen eigenen Standort und ziehen in das ehemalige Rathaus des Quartiers Cadro. Dort bieten wir ab September nebst einem astronomischen Planetarium verschiedene Wechselausstellungen und zahlreiche Workshops an. Wir werden auch einen olfaktorischen Raum einrichten, wo sich Besucher durch 100 verschiedene Gerüche schnuppern können, und es wird kleine Labors geben, die sich mit Themen aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik beschäftigen.

Nachdem mein Klavierlehrer meinen Eltern einst unmissverständlich klargemacht hatte, dass ich offensichtlich kein musikalisches Talent besass, kauften Ein Labor fürs ganze Volk sie mir auf meinen Wunsch ein Teleskop. Ich war also schon als Kind von der Wissenschaft fasziniert.

Wahrscheinlich gab dieses Geschenk meiner wissenschaftlichen Laufbahn die Initialzündung. Nach meinem Biologiestudium betrieb ich Forschung, doktorierte in Neurobiologie, schloss als Jahrgangsbester ab und wurde mehrfach ausgezeichnet – einer akademischen Karriere stand nichts im Weg. Doch schon bald empfand ich meine Arbeit als zu spezifisch, ich suchte nach einer Vision, die den Menschen ins Zentrum setzt. Und so konzentrierte ich mich während mehrerer Jahre voll und ganz auf humanitäre Projekte. Dieses Eintauchen in die reale Welt war für mich die beste Lebensschule. Sie beeinflusst bis heute meine Arbeit.

Die grossen Fragen des Lebens

Auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird: Junge Menschen interessieren sich für wissenschaftliche Themen! Allerdings, und auch das ist eine Tatsache, entscheiden sich immer weniger für eine wissenschaftliche Karriere. Warum ist das so? Weil leider ein viel zu einseitiges Bild der Wissenschaft verbreitet und gleichzeitig ihr humanistischer Aspekt nur stiefmütterlich behandelt wird. Und genau hier liegt das Problem. Noch nie in der Geschichte der Menschheit standen uns so viele Informationsquellen zur Verfügung: Zeitungen, Magazine, Sendungen, Podcasts, Wikipedia. Wenn ich eine Antwort suche, muss ich mich nur ins Internet einloggen, und schon werde ich fündig.

Aber: Die wirklich grossen, die fundamentalen Fragen bleiben trotz dieser Informationsflut unbeantwortet. Wer sind wir, woher kommen wir und wohin gehen wir? Was ist überhaupt das Leben, wo fängt es an, was macht es aus? Wir wissen es nicht. Nicht, weil wir in der Schule nicht aufmerksam waren und es nicht gelernt haben, sondern weil es keine Antworten darauf gibt! Aber genau dies sind die Fragen, die jeden Einzelnen von uns, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, beschäftigen. Deshalb ist die Wissenschaft überhaupt entstanden und hat sich weiterentwickelt. Es sind Fragen, die endlose Dialogmöglichkeiten bilden und uns ins Spiel bringen. Mit dem Ideatorio werden wir gemeinsam einen Ort eröffnen, der uns erlaubt, diesen komplexen Fragen nachzugehen und uns mit dem Mysterium des Lebens zu beschäftigen.»

 


Giovanni Pellegri

Helfen geht geht über studieren

Bild: SUPSI

Giovanni Pellegri leitet das Ideatorio an der Università della Svizzera italiana (USI), das auch Tessiner Aussenstelle der Stiftung Science et Cité ist. Er hat in Lausanne zur Neurobiologie promoviert, und seine Dissertation wurde von der Zeitschrift Le Scienze ausgezeichnet. Nachdem sich Pellegri sieben Jahre im Hilfswerk Caritas Ticino engagiert hatte, wechselte er an die USI. Bekannt ist er auch durch die Wissenschaftssendung «Il Giardino di Albert» beim Tessiner Fernsehen.