Heute erscheint Roberto Savianos neues Buch. Darin beleuchtet er das lukrative Kokaingeschäft, das in den Händen der kalabrischen Mafia ‚Ndrangheta ist. Deren Tentakel reichen bis in die Schweiz.

Nina Merli

5. April 2013
Sieben Jahre ist es her, seit ein damals noch gänzlich unbekannter Roberto Saviano (siehe Box) mit seinem Erstlingswerk «Gomorrha» für Furore sorgte. Zum ersten Mal wagte es ein Autor, nicht nur die detaillierten Machenschaften der Camorra (der neapolitanischen Mafia) aufzudecken, sondern auch, die wichtigsten Akteure bei ihrem Namen zu nennen. Enthüllungen, die den jungen Autor an die Spitze internationaler Bestsellerlisten und gleichzeitig auf die Abschussliste der Camorra katapultierten. Seit Erscheinen seines Buches lebt Saviano unter Personenschutz. Heute kommt sein zweites Werk auf den Markt: «Zero Zero Zero» (eine Bezeichnung, die für extrafein gemahlenes Mehl steht).
«Null Null Null» verspricht einen ebenso brisanten Inhalt wie sein erstes Werk. Denn Saviano beschreibt darin das weltweite Geschäft mit Kokain. Ein Milliardengeschäft – das auf europäischer Ebene von der kalabrischen Mafiaorganisation ‚Ndrangheta (siehe Box) kontrolliert wird. Die kriminelle Organisation gilt inzwischen als mächtigste Europas, setzt jährlich 44 Milliarden Euro um. Dies ergab eine Studie von Eurispes (Europäisches Institut für politische, wirtschaftliche und soziale Studien).

Alle Kokainwege führen nach Italien

Gestern präsentierte Roberto Saviano in der Libreria Feltrinelli in Rom sein Buch, und die Tageszeitung «La Repubblica» widmete Saviano auf ihrem Onlineportal eine ausführliche Spezialsendung. Zu Wort kamen, nebst Saviano, zahlreiche italienische Experten, die sich seit Jahren mit der Materie beschäftigen. Journalist Massimo Lugli erzählte beispielsweise von einer relativ neuen Schmuggelmethode. So seien in Rom in den letzten Jahren mehrere Chemielabors aufgeflogen. Darin hätten von der ‚Ndrangheta angestellte Chemiker sackweise Kokain aus Textilien entnommen.
«In Südamerika, meistens in Kolumbien, sind etliche Labors darauf spezialisiert, reinstes Kokain in flüssige Form zu verwandeln», sagte Lugli. «Kleider oder auch Teppiche werden darin getränkt und saugen so das hochprozentige Kokain, das in flüssiger Form praktisch geruchlos ist, auf.» Die Ware werde nach Italien exportiert und dort von den zuständigen Chemikern wieder aus den Textilien extrahiert. In einem weiteren Schritt werde das Kokain gestreckt – wobei je nach «Kundensegment» der Kokainanteil stark variiert – und für die weitere Verteilung abgepackt.

Kokain im Überfluss

An der gestrigen Lesung zeichnete Saviano ein sehr genaues Bild der ‚Ndrangheta und zeigte auf, wie die Organisation es dank ihrer eisern eingehaltenen Regeln und den straffen Strukturen, die keine Abweichungen akzeptieren, an die Spitze der organisierten Kriminalität geschafft hat. Der Autor sprach ausserdem einige sehr interessante Punkte an, die in seinem Buch ausführlich besprochen werden. So erklärte er die Rolle von internationalen Banken und Politikern im Kokaingeschäft und zeigte auch Zusammenhänge zwischen der Finanzkrise und dem ständig wachsenden Kokainmarkt auf.
Italien werde regelrecht vom Kokain überschwemmt, allein in der Region Kampanien wurde 2006 eine Tonne Kokain sichergestellt. Die Drogenschwemme sorgt für Dumpingpreise, in gewissen Regionen ist der Preis auf fünf Euro pro Portion gefallen. Dies bestätigt Salvatore P. (Name von der Redaktion geändert) im Gespräch mit. Der zweifache Familienvater betreibt seit bald zwanzig Jahren im Sommer eine Stranddiskothek an der Küste Kampaniens. Das Kokain sei mittlerweile so billig geworden, dass es sich jeder leisten könne. «Und das tut auch jeder», sagt er und lacht. Im Sommer sei es das reinste «Inferno hier unten. Wir baden hier alle im Kokain». Der Konsum sei etwas völlig Normales geworden. Salvatores Sohn, der als DJ in dem von ihm gegründeten Club arbeitet, habe ein paar Jahre mit seiner Freundin in Mexiko gelebt. Dort habe er gemeinsam mit einem Freund, der aus dem gleichen Dorf stammt, im grossen Stil Drogen an Touristen verkauft. Den Freund «haben sie leider erwischt». Er sitzt im Augenblick eine achtjährige Strafe in Cancún ab. «Die Jungs haben alles verkauft. Haschisch, Kokain. Und Ecstasy», erzählt der Vater. Er halte nichts von den Pillen. «Ecstasy ist Scheisse. Bei mir im Club gibts nur Kokain.»
Es sind Männer wie Salvatore, die Roberto Saviano unter anderem zu seinem zweiten Buch bewogen haben. Aufgewachsen in Casal di Principe, einer Camorra-Hochburg, hat Saviano viele davon getroffen. Einige kommen auch in «Zero Zero Zero» zu Wort. Diese völlig unkritische Haltung dem Kokain und dem Konsum gegenüber beschäftigt Saviano gleich stark wie die kriminelle Organisation dahinter. So wies der Autor am gestrigen Abend auch immer wieder auf die negativen Auswirkungen der Droge auf den Menschen hin. «Ich habe noch nie etwas von Drogen gehalten, was mich in meinem Umfeld zu einer Ausnahmeerscheinung machte», so Saviano. «Ich will, dass jeder, der Kokain konsumiert, über die Auswirkungen der Drogen Bescheid weiss und sich bewusst ist, dass er mit jedem Mal eine ganze Kette von Kriminellen finanziert und somit diesen Wahnsinn überhaupt ermöglicht.»

‚Ndrangheta operiert auch in der Schweiz

Mario Parente, Chef der Sondereinheit der Carabinieri, ermittelt seit Jahren gegen die verschiedenen italienischen Mafiaorganisationen. Laut Parente hat die ‚Ndrangheta schon zu Beginn der 1990er-Jahre begonnen, den direkten Kontakt zu den kriminellen Organisationen Südamerikas zu suchen. Mit Erfolg: Der europäische Kokainhandel ist komplett in den Händen der ‚Ndrangheta. «Das gesamte Netz, vom Händler über den Importeur bis zur Distribution in Europa», sagt Parente, «wird von Kalabrien aus geführt.» Der grösste Teil des in der Schweiz konsumierten Kokains gelangt ebenfalls über die Kanäle der ‚Ndrangheta ins Land.
So berichtete die «Rundschau» vor zwei Jahren über die Fahndungserfolge der Schweizer und der italienischen Behörden. Ein sogenannter kalabrischer «Pentito» hatte wichtige Details zu ‚Ndrangheta-Mitgliedern in der Schweiz geliefert, die hier Drogengelder reinwuschen und mit Kokain handelten. Vor allem seit der Druck in Italien gestiegen sei, würden Mitglieder der ‚Ndrangheta in die Schweiz drängen. Vor gut einem Jahr wurde erstmals ein Boss der ‚Ndrangheta in Frauenfeld verhaftet. Der 54-Jährige wohnte dort seit Jahren und war nie negativ aufgefallen.