Ein beherztes Dorf in Süditalien hat vor 20 Jahren begonnen, Flüchtlinge aktiv zu integrieren. Dank dem Glauben an Solidarität und Menschlichkeit.

Text: Nina Merli, erschienen im Punktmagazin

An Ostern dieses Jahres waren es 8300 – innerhalb von zwei Tagen. Anfang Mai 3000 an einem einzigen Tag. Flüchtlinge, vor der Küste Siziliens gerettet. Laut der italienischen Regierung sind in diesem Jahr bereits 37 000 Migranten auf dem Seeweg nach Italien gekommen, mehr als 1000 haben es nicht geschafft und konnten nur noch tot geborgen werden. Die Bilder und Nachrichten dieses Elends erreichen uns fast täglich, werden, wenn auch immer seltener, geteilt auf SocialMedia. Viele möchten helfen, «irgendetwas tun». Nicht nur betroffen sein, nicht nur spenden – sondern auch anpacken. So wie Domenico Lucano, der Bürgermeister von Riace, eine 2000-Seelen-Gemeinde in Kalabrien. Lucano, den alle nur «Mimmo» nennen und der letztes Jahr von Papst Franziskus empfangen und nur wenige Monate davor vom US-Magazin Fortune in die Liste der «wichtigsten Führungspers.nlichkeiten der Welt» aufgenommen wurde.
Es war im Morgengrauen eines Julitages 1998, als er, damals noch Lehrer, ein Segelschiff am Strand bei Riace entdeckte. Beim genaueren Hinsehen erkannte er Menschen, die aus dem Wasser wateten und sich unter grosser Anstrengung an den Strand schleppten. Lucano liess sein Auto an der Küstenstrasse stehen, rannte zum Strand – und packte an. «An diesem Tag hat sich mein Leben verändert, aber auch das Leben von Riace», sagt Lucano in einem Dokumentarfilm von Davide Fiorentini.

Ein Dorf im Dornröschenschlaf

Rund 300 kurdische Flüchtlinge konnten damals geborgen werden. Doch wohin mit diesen Frauen, Männern und Kindern? Im Dorf entschied man, die Flüchtlinge in den leerstehenden Häusern des mittelalterlichen «Borgo» von Riace Superiore unterzubringen. Der etwas höher gelegene Dorfteil hatte sich in den letzten Jahren praktisch zu einem «Paese Fantasma» verwandelt, einem Geisterdorf. Die ursprüngliche Einwohnerzahl von 4000 war auf ein Rekordtief von 600 gefallen. Wie so manches süditalienische Dorf litt auch Riace unter der seit Jahrzehnten andauernden Abwanderung: Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatten ganze Familien den weiten Weg in die USA, nach Argentinien oder Australien auf sich genommen, waren fortgegangen und nicht wieder zurückgekehrt. Dann, in den 1960er-Jahren, als in Europa der Wirtschaftsboom ausbrach, zogen wiederum viele Süditaliener los. In den Norden des Landes aber auch in die Schweiz, nach Deutschland, Belgien. Auf der Suche nach Jobs und einer einfacheren Zukunft. Zurückgekehrt ist fast niemand. 1998 schien sich das Dorf in Nichts aufzulösen. Schuhmacher, Zeitungshändler, Metzger – einer nach dem anderen sah sich gezwungen, sein Geschäft aufzulösen. Man spielte sogar mit dem Gedanken, die Schule zu schliessen, da sich ein Lehrer für eine Handvoll Kinder nicht rechnete.

Doch dann kamen die Flüchtlinge. Und Lucanos Idee: Er wollte einen Ort schaffen, wo Einheimische und Flüchtlinge miteinander leben und voneinander profitieren. Mit Gleichgesinnten gründete Lucano «Città Futura» (Stadt der Zukunft), ein Verein, der Flüchtlinge in Riace ansiedelt, ihnen eine Perspektive bietet und so das aussterbende Dorf wiederbelebt. «Ein Ort von Auswanderern ist durch einen sonderbaren Zufall zu einem Ort für Einwanderer geworden», beschreibt Lucano die Situation in seinem Heimatdorf.


Das Integrationswunder von Riace nahm seinen Lauf. Die leerstehenden Häuser wurden von den gestrandeten Kurden gemeinsam mit den Einheimischen umgebaut. Lucanos Vorschlag, die halb zerfallenen Häuser gratis zu renovieren und im Gegenzug Mieterlass während zehn Jahren zu erhalten, schien den weggezogenen Besitzern ein fairer Deal. Auf diese Weise wurde Riace Stück für Stück wieder zum Leben erweckt, dadurch kam auch die dahinserbelnde Wirtschaft wieder in Schwung. Plötzlich waren wieder Menschen da, die Essen brauchten, einen Arzt, Kleider. «Città Futura» überzeugte auch die zuständigen Behörden, das Projekt wird mit 35 Euro pro Tag und Flüchtling unterstützt. Die Subvention verfällt, sobald die Migranten reguläre Aufenthaltspapiere erhalten. Dann ist es Zeit, selber für den Lebensunterhalt aufkommen. Einige ziehen weiter nach Norden, andere bleiben und mieten sich eine Wohnung, schicken ihreKinder in Riace zur Schule.

Bis es aber so weit ist – es kann gut bis zu zwei Jahre dauern – haben Flüchtlinge die Möglichkeit, sich in Riace zu integrieren. Aber auch, sich für die angebotene Hilfe zu revanchieren. Sie springen ein, wenn Kinder gehütet werden müssen, helfen älteren Menschen beim Einkauf oder im Haushalt. Mit der Gründung von «Città Futura» hat Lucano Arbeitsplätze für Flüchtlinge und Einheimische geschaffen. Mehrere Werkstätten wurden ins Leben gerufen: eine Glasmanufaktur, eine Stickerei, eine Schreinerei und eine Weberei. Es sind vorwiegend Frauen, die hier beschäftigt werden, die Männer werden im Obstoder Gemüseanbau gebraucht. So können die Flüchtlinge zusätzliches Geld verdienen, und die Bauern haben die nötige Arbeitskraft, um ihre Betriebe am Leben zu erhalten. Sogar der Tourismus hat vom Projekt profitiert.
Denn die Flüchtlinge haben nicht  nur Häuser für den eigenen Bedarf restauriert, sondern auch für Gäste, die jeweils in den Sommermonaten anreisen. Es kommen vorwiegend Menschen, die sich für Lucanos utopisches Projekt interessieren, die erleben wollen, wie gelebtes Miteinander verschiedener Nationen und Kulturen funktioniert. Es kommen sogar Paare, die sich hier vom «Bürgermeister des Zusammenhalts» trauen lassen wollen – als gutes Omen für ihre Ehe.

Der Mafia ein Dorn im Auge

Keine Freude an «Città Futura» hat auch die lokale Mafia, die N’drangheta. Die mächtigste Mafiaorganisation Europas, die 53 Milliarden Euro pro Jahr umsetzt, hat das Geschäft mit den Flüchtlingen in den letzten Jahren zu einer florierenden Einnahmequelle gemacht. Die beiden Hunde von Lucanos Sohn hat das Syndikat als Warnung vergiftet, später den Eingang der Geschäftsstelle beschossen.

Lucanos Familie lebt seither im Norden, er selber ist geblieben. Auch wenn er zu Beginn dieses Jahres fast aufgegeben hätte, nachdem im Internet eine Schlammschlacht gegen ihn losgetreten wurde. Lucano gab seinen Rücktritt bekannt, zog ihn jedoch einige Wochen später wieder zurück. Der 58-Jährige ist fest entschlossen, seine Aufgabe weiterzuführen. «Die Flüchtlinge und mit ihnen Città Futura haben uns erlaubt, der Welt ein Zeichen der Menschlichkeit zu senden – dafübin ich dankbar».