Der italienische Sänger Jovanotti präsentiert 30 neue Songs: «Lorenzo 2015 CC» ist sein bisher kreativstes Werk.

Interview: Nina Merli

1. März 2015
Seit seinem ersten Album sind 27 Jahre vergangen. Jovanotti (48), mit richtigem Namen Lorenzo Cherubini, ist einen weiten Weg gegangen. Der «Italo-Rapper» hat sich zu einem vielseitigen, virtuosen Musiker entwickelt, hat Bücher geschrieben, sich politisch engagiert. Diese Woche erklärte der bekennende Internet-Fan in Mailand mittels Infografik und Emoticons die Entstehung seines neusten Werkes: «Lorenzo 2015 CC». Es folgte ein Gespräch mit einem grossen Denker – und pausenlosen Redner.

Sie haben in wenigen Monaten ein neues Album mit 30 Songs produziert. Wie schafft man das?
Jovanotti: Keine Ahnung! Ich habe tatsächlich wie ein Irrer daran gearbeitet, jeden Tag. Habe mich hingesetzt und – bam! – einen Song geschrieben. Und dann noch einen und noch einen. Nach einigen Tiefpunkten in den Monaten davor war ich so richtig geladen – und bin mit voller Kraft ans Werk gegangen.

Was war passiert?
2013, nach dem Ende der Stadion-Tournee, bin ich zusehends in ein Loch gefallen. Man muss sich das mal vorstellen: Da pilgern Fans zu Tausenden in Fussballstadien, nur um einen Menschen zu sehen. Dich! Du wirst monatelang bejubelt, gefeiert, fühlst dich fast allmächtig, als ob dir die ganze Welt zu Füssen liegen würde – und plötzlich ist das Fest vorbei, und du bist wieder auf dich gestellt. Eine Zeit lang kannst du noch auf dieser positiven Welle weiterreiten, so lange, bis dein Körper das Adrenalin abbaut, das er während der Wochen auf der Bühne, in diesem totalen Euphorie-Rausch ausgeschüttet hatte.

Und danach holt einen die Realität ein?
Genau. In jenem Moment, in dem sich die Selbstzweifel zurückmelden: Ich werde nie wieder eine tolle Platte machen; wie soll ich so eine Tour jemals toppen?; meine Karriere ist vorbei; bald werde ich fünfzig, aber was weiss ich schon vom Leben? Und so weiter und so fort.

Was hat Sie aus diesem «Down Post-Tour» gerettet?
Eine kleine, sehr intime Tournee durch Südamerika. Da habe ich mich wieder mit der Musik versöhnt, mein Selbstvertrauen wiedergewonnen. Und auch die Idee für ein neues Album ist dabei entstanden.

Doch erst hat Sie eine schwere Lungenentzündung geplagt.
Genau. Ein ganz hässlicher Moment in meinem Leben. Mir gings vorher gesundheitlich eigentlich immer gut. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ganz im Ernst, ich fühlte mich so schlecht, dass ich dachte, sterben zu müssen. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben richtige Todesängste ausgestanden. Aber vielleicht habe ich genau das gebraucht, um mich zu «resetten» – um das neue Album komplett von neuem anfangen zu können.

Seit einiger Zeit leben Sie und Ihre Familie hauptsächlich in New York.
Kaum zu glauben, wir sind jetzt schon seit drei Jahren in New York. Obwohl wir uns dort ja nur eine Auszeit gönnen wollten.

Was hat Sie dort gehalten?
Als meine Tochter Teresa mit der Mittelstufe fertig war, wollten wir uns ein paar Monate lang irgendwo eine Auszeit gönnen. Wir entschieden uns für New York. Meine Tochter besucht dort ein italienisches Gymnasium und es gefiel ihr von Anfang an derart, dass sie uns bat, noch ein Jahr länger zu bleiben. Und dann noch eines. Nächstes Jahr macht Teresa ihren Abschluss. Und dann schauen wir weiter. Ich habe aber nicht vor, danach länger in New York zu bleiben. Auch wenn mir die Stadt sehr gut gefällt. Ich meine, New York kann einem gar nicht nicht gefallen! New York ist unglaublich, so pulsierend. So rastlos.

Ein bisschen wie Sie.
Stimmt. Ich bin ein stürmischer Typ. Das war ich schon immer. Ich bin ständig in Bewegung, muss etwas machen, mich bewegen, tanzen, denken, reden. Würde ich keine Musik machen, würde ich wahrscheinlich Nägel kauen.

Machen Sie auch mal rein gar nichts?
Klar. Es gibt auch die völlig normalen Tage auf dem Sofa. Fernsehen. Abschalten.

Schliessen Sie die Alben, wie andere Künstler, auch mit einem Ritual ab?
Klar. Die letzten Male gönnte ich mir ein neues Tattoo, einen Walfisch, ein Pferd. Und jetzt, für «Lorenzo 2015 CC», habe ich mir einen Gorilla geschenkt. (Jovanotti zieht seinen Sweatshirt-Ärmel hoch und zeigt einen bunten Gorilla auf dem Unterarm).

Verraten Sie uns, was hinter dem Motiv steckt?
Vor dem Album steht eine regelrechte Achterbahn der Gefühle. Es ist alles drin: Tränen, Freude, Wut, Enttäuschung, Liebe, Nostalgie – die ganze Palette. Sie müssen wissen: Das Album ist unter enorm grossem Druck entstanden. Denn zum ersten Mal hatte ich eine Tournee angesagt, ohne dass das Album fertig war. Meine arme Frau, sie hat diesen Druck am meisten zu spüren bekommen – sie ist so was wie der Blitzableiter in unserem Haushalt.

Und was hat das mit dem Gorilla zu tun?
In diesem anstrengenden Prozess fühlte ich mich manchmal wie King Kong. Ich mag diesen riesigen Affen, wie er sich da auf der Spitze des Empire State Buildings gegen die Angriffe der Flugzeuge wehrt. Ein wunderschönes Bild! Ausserdem glaube ich: In jedem von uns steckt ein Affe, diese Urkraft, dieses Tiersein.

Hatten Sie schon je Blockaden?
Sie meinen einen Schreibstau? Nein. Fehlt mir eine zündende Idee, schreibe ich halt ein schlechtes Lied. Und geht gar nichts, nehme ich den Song eines anderen Künstlers dran, etwa von Jacques Brel. Ich übersetze den Text, ändere die Tonart und singe dieses neue alte Lied. Oder ich schnapp mir mein Velo und fahre eine Runde, oder ich gehe joggen.

Bleibt Ihnen nebst der Musik überhaupt Zeit für anderes?
Auf jeden Fall! Ich lese wahnsinnig viel. Mir gefallen südamerikanische Autoren wie Gabriel García Márquez oder Mario Vargas-Llosa. Márquez ist für mich der Grösste überhaupt. Als ich vor Jahren zum ersten Mal eines seiner Bücher gelesen habe, hat das in mir eine wahre Lese-Leidenschaft entfacht. Weil ich unbedingt ein Buch lesen wollte, das noch besser als «Hundert Jahre Einsamkeit» ist. Also habe ich gelesen und gelesen. Meine Liebe für Márquez’ Buch ist so gross, dass ich mir vor einigen Jahren in den Kopf gesetzt habe, Spanisch zu lernen – um wenigstens die erste Seite in der Originalfassung zu verstehen. Und ich habe es geschafft.

Mit welcher berühmten verstorbenen Persönlichkeit würden Sie gern einen Abend verbringen und über das Leben sinnieren?
Oh, davon gibts eine ganze Menge! Lassen Sie mich mal überlegen. Mir fallen so viele ein. Darf ich völlig frei wählen?

Völlig frei.
Na, wenn das so ist, würde ich am allerliebsten einen Abend mit Jesus verbringen. Jesus Christus, wow! Oder mit Moses! Der wäre sicher auch spannend (lacht).
Biblische Figuren scheinen mich zu interessieren. Ausserdem würde ich gerne mit Odysseus über seine Reisen reden. Ah, oder Rumi, den persischen Dichter, treffen. Ich liebe Rumi! Ich glaube, ich kann mich nicht entscheiden.

Vergangene Woche haben holländische Fussball-Hooligans Rom verwüstet. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Bilder sehen?
Das ist eine ganz traurige Sache, nicht wahr? Mich stört dabei weniger das Resultat als das komplette Fehlen von Sensibilität gegenüber einem Meisterwerk, einem Stück Geschichte. Wirklich erschreckend ist, dass es sich bei den Vandalen nicht um Teenager handelt, sondern um erwachsene Männer. Das ist das wirklich Dramatische daran. Was genau muss falsch gelaufen sein, wenn jemand, der in einem derart aufgeklärten und zivilisierten Land wie Holland aufwachsen und zur Schule gehen durfte, nach Rom fährt und so etwas anrichtet?

Sie sind sehr aktiv auf Social-Media-Kanälen. Betreiben Sie Ihre Accounts alle selber?
Alle. Ich bin schon sehr lange ein grosser Internet- und auch Social-Media-Fan. Ob Facebook, Instagram, Twitter – das alles bin ich. Kein Media-Manager, der für mich postet, kein Filter, keine Zensur. Mir gefällt diese direkte Art, sich mitzuteilen. Fotos oder Videos zu posten, Artikel zu verlinken. Und es gibt mir die Möglichkeit, sehr nahe bei meinen Fans zu sein. Ihre Reaktionen auf meine Posts sagen viel aus. Mir ist aufgefallen, was für ein intelligentes, respektvolles und positives Publikum ich habe.

Der Song «Libera» ist Ihrer Tochter gewidmet. Sie ist jetzt 16 – wie schwer ist es für Sie als Vater loszulassen?
In den ersten Lebensjahren sind Kinder so unglaublich süss, dass man sie die ganze Zeit knuddeln möchte. Ja, und dann werden sie grösser und entwickeln sich immer mehr zu eigenständigen Persönlichkeiten. Es kommt der Moment, wo man als Eltern realisiert, dass man Fehler gemacht hat, und man hofft, dass alles gut kommt. Aber wenn ich mir meine Tochter ansehe, so sehe ich einen schönen Menschen mit vielen Interessen, gesundem Menschenverstand, mit vielen positiven Eigenschaften. Eine junge Frau, die gern zur Schule geht. Das macht es für mich einfacher. Sie wird das Leben mit Sicherheit gut meistern.

Auf dem neuen Album hat es auffallend viele Liebeslieder, lauter Liebeserklärungen an Ihre Frau Francesca. Sie sind seit 21 Jahren ein Paar. Wie hält man die Liebe über so viele Jahre wach?
Ich glaube nicht, dass es ein Rezept für die Liebe gibt. Es braucht zwei, die diese Liebe wollen. Zieht nur einer, kommt man nicht weit. Ausserdem muss man die Liebe Tag für Tag neu angehen: Heute ist ein guter Tag, morgen ein schlechter. Was noch lange nicht heisst, dass bei uns immer alles rund läuft. Das gibts doch nicht, oder?

Trotzdem: Traurige Liebeslieder sind nicht Ihr Ding.
Nein, ich ziehe es vor, meine Songs aus den guten Tagen zu schöpfen. Weil ich lieber das Positive verarbeite und das auch besser kann. Es gibt sehr viele Künstler, die wunderschöne, schwere, dunkle Lieder über das Leid der Liebe komponiert haben. Ich meinerseits kann nur sagen, dass die Liebe – eine schöne, ehrliche und echte Liebesbeziehung – das Allerwichtigste im Leben ist. Alles andere kommt an zweiter Stelle.


Jovanotti

Der Aufstieg vom DJ zum Millionenseller

Seine Karriere beginnt Lorenzo Cherubini aka Jovanotti (48) als Teenager in den 1980er-Jahren. Er legt als DJ in Clubs und Radios auf, moderiert später bei MTV. 27 Jahre nach seiner Album-Premiere präsentiert er sein 19. Album «Lorenzo 2015 CC» mit 30 Songs: ein fulminantes Werk, das Dance, Funk, Elektro, Pop, Afro-Beat und Soul vereint. Privat ist er seit 21 Jahren mit Francesca Valiani liiert, 2008 hat das Paar geheiratet. Sie ist «Fixpunkt meines Lebens und Grund für meine Monogamie». 1 Seine Liebe: Jovanotti mit Francesca Valiani. 2 Seine Tochter: Auf dem neue Album findet sich eine Liebeserklärung an Teresa. 3 Seine Kreativität: Jovanotti erklärt in Mailand mit Emojis sein neues Album.