Jüdische Flüchtlinge waren in der Dominikanischen Republik aus rassistischen Gründen höchst willkommen. Der Plan von Diktator Trujillo scheiterte.

Von Nina Merli (Text) und Damaris Betancourt (Fotos)

28. Juni 2001
Am Strand steht «Ballermann 4», es gibt einen «Bayrischen Biergarten», wo «echte deutsche Schnitzel» gebraten und Warsteiner-Biere verkauft werden. Man spricht Deutsch in Sosua – und Jiddisch.
Denn vor sechzig Jahren war der Ferienort eine jüdische Kolonie, die Einwohner waren Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Sosua liegt im Norden der Dominikanischen Republik, 20 Kilometer westlich von Puerto Plata. Rund 12 000 Menschen leben hier, nur noch etwa 50 sind Juden. Sie gehen dann und wann in die kleine, hellblaue Synagoge am Calle Dr. Alejo Martinez und feiern Jom Kippur, das höchste jüdische Fest. Es gibt einen Calle Dr. Rosen und einen Calle David Stern. Die Juden waren es, die die ersten Hotels der Insel bauten, den Tourismus einführten. «Das nenne ich Ironie des Schicksals», sagt Luis Hess, «wir sind damals vor den Deutschen hierhin geflüchtet, jetzt flüchten sie vor dem deutschen Alltag zu uns.»
Luis Hess traf als einer der ersten in Sosua ein. Er ist 93 Jahre alt und stammt aus Erfurt. Hess ist Jude. Drei Wochen dauerte die anstrengende Schifffahrt von Genua nach Santo Domingo. Nahrungsknappheit, mangelnde hygienische Einrichtungen und eine grosse Ungewissheit zehrten an den Nerven der 35-köpfigen Gruppe. Am 9. Mai 1940 ankerte der italienische Dampfer «Conte Mano Bianca» im Hafen von Ciudad Trujillo – wie Santo Domingo damals hiess – und Hess betrat seine neue Heimat. Die lange Flucht vor Hitler hatte endlich ein Ende. Vor einem halben Jahr ist Hess‘ Frau gestorben. 60 Jahre lang waren sie verheiratet. Es war damals die erste Hochzeit zwischen einem Juden und einer Dominikanerin. «Ich war ein Vorreiter.» Später haben auch andere den Schritt gewagt und einheimische Frauen geheiratet. «Die meisten Frauen sind zum Judentum konvertiert.»
Seine Rettung vor den Nazis verdankt Hess einem anderen Diktator: Rafael Leonidas Trujillo Molina. Der selbst ernannte «Generalissimus», «Wohltäter» und «Vater des Neuen Vaterlandes». Trujillo, Diktator der Dominikanischen Republik, hatte sich 1938 – als Einziger – an der Konferenz von Evian bereit erklärt, Juden aufzunehmen, ihnen Asyl zu gewähren. Doch die Absichten von Trujillo, im Volksmund wegen seiner Sexbesessenheit «Ziegenbock» genannt, waren alles andere als edlen oder gar humanitären Ursprungs. Er, von dem es heisst, er hätte sein Gesicht täglich mit Bleichungscrème eingeschmiert, wollte die Hautfarbe seines Volkes aufhellen. Denn Trujillo verabscheute die schwarze Hautfarbe. Verabscheute seine mütterlichen Vorfahren, «diese haitianischen Neger». Doch Trujillos Traum vom weissen dominikanischen Volk bleibt unerfüllt. Von den rund 100 000 versprochenen Visa werden in Europa ganze 700 ausgestellt. Hitlers «Endlösung» kommt zu schnell voran.
Zur von Trujillo beabsichtigten Vermischung hat als einer der wenigen auch Felix Koch beigetragen. Er heiratete Gloria, eine Dominikanerin. Koch, 85, ein Wiener Radiomechaniker, ist kurz nach Hess nach Sosua gekommen. Vorher hatte Koch mehrere Monate in einem französischen KZ in der Nähe von Bayonne verbracht. Über Lissabon erreichte er mit 51 weiteren Flüchtlingen – an Bord der «Mouzinho» – 1941 Puerto Plata. Seine Freunde aus dem französischen Lager wurden ein halbes Jahr später nach Auschwitz deportiert. Die Wände in Kochs Wohnzimmer sind voller gerahmter Auszeichnungen, Diplome. «Die habe ich vom Staat bekommen, weil ich so viel für den Tourismus geleistet, ihn sozusagen aufgebaut habe.» Koch hat mit seinem mitgebrachten Geld die ersten Hotels in Sosua gebaut und führt heute noch – mit Gloria – das «Koch’s GuestHouse», wo sie die meiste Zeit verbringen. Zum Leidwesen von Gloria, denn das Ehepaar besitzt ein grosses Haus mit Pool in der Sea Horse Ranch, einer von Sicherheitsleuten bewachten Villenanlage. «Seit November waren wir nicht mehr dort», klagt Gloria. Aber Felix ist alt geworden. Es muss immer nach seinem Kopf gehen.
«Tu me quieres, Gloria?» Die Frage, die eigentlich gar keine ist, beantwortet sie mit einem Kopfnicken, verlegen verdreht sie die Augen. Natürlich liebt sie ihn, ihren «Caco Pelao», ihren Glatzkopf, seit 40 Jahren schon, und erzählt von den vielen Reisen, die sie zusammen unternommen haben nach Israel, Amerika und sogar nach Wien; nach Hause.
Trujillo hielt sich an das Versprechen von Evian. 1939 wurde unter Leitung der amerikanischen Hilfsorganisation Jewish Joint Distribution Committee (JDC) für das Sosua-Projekt eine Siedlungsgesellschaft gegründet: die Dorsa (Dominican Republic Settlement Association). Sie kaufte Trujillo das ehemalige Land der United Fruit Company ab. Für die 108 Quadratkilometer bezahlte die Dorsa den doppelten Preis. Die Siedler wurden in ehemaligen Baracken der United Fruit Company untergebracht – einige davon stehen heute noch. Die für eine «landwirtschaftliche Kolonie ausgesuchten» Juden trafen auf völlig verwildertes Gelände, einem Urwald ähnlich. Sosua bestand aus einem halben Dutzend ärmlicher Häuser, die wenigen Einheimischen lebten mehr schlecht als recht von der Fischerei. Die eingereisten Juden wurden mit offenen Armen empfangen, wie die Siedler immer betonen. Ablehnung haben sie nie zu spüren bekommen.
1941 gründete Luis Hess in Sosua die erste Schule, das Colegio Cristobal Colon. Am 9. Februar dieses Jahres hat man es in Colegio Luis Hess getauft, wie er nicht ohne Stolz erzählt. Hess holt Bilder von seiner Frau. Fotos, die er selbst entwickelt hat. Sie zeigen eine dunkle Schönheit, «mit jadegrünen Augen», glänzendem, schwarzem Haar. Auf dem Foto trägt sie eine weisse Pelzjacke, denn es ist kalt auf dem Gornergrat. Nicht nur die Schweiz – Zermatt, Luzern und Zürich – nein, die ganze Welt habe er ihr gezeigt. Auch Ibiza; da hat Hess drei Jahre lang gelebt. «Von 1933 bis 1935 war ich auf der Insel. Ich hatte eine Bar im Hafen von Eivissa.» Die «American Bar», die es heute noch gibt.
Und Erfurt? Nein. Erfurt habe er nicht zeigen wollen. Wie die meisten Sosua-Siedler ist auch Hess nie in seinen Heimatort zurückgekehrt. Zu schmerzvoll die Erinnerungen, zu gross auch die Bitterkeit. Aber ein Buch hat er: «Villen aus Erfurt». Da – das sei das Haus seines Vaters gewesen, von Alfred Hess. Dem Kunstförderer, dem Schuhfabrik-Besitzer, nach dem später, nach dem Krieg, eine Strasse benannt worden ist: die Alfred-Hess-Strasse. «Da. Hier oben, da war mein Kinderzimmer», Hess tippt mit seinem Zeigefinger auf das Bild. «Jetzt wird die Villa als Jugend-herberge genutzt.»
Jedem Siedler wurden von der Dorsa zehn Hektaren Land, zehn Kühe, ein Pferd und ein Maultier zugeteilt. Felix Koch taufte eine seiner Kühe auf den Namen «Chocolate» – «ein liebes Tier». Die ersten Versuche, Weizen anzubauen, schlugen fehl. Auch weitere Projekte scheiterten am landwirtschaftlichen Unwissen der Juden, die vorher als Ärzte, Künstler oder Ingenieure tätig gewesen waren. Die schwierigen Umstände führten untereinander immer wieder zu Spannungen, Streit und handfesten Auseinandersetzungen. Einerseits weil die gesellschaftlichen Unterschiede sehr gross waren und anderseits weil ein grosser Teil der Siedler Sosua nur als Durchgangsstation sah: Die Mehrheit ist nach dem Krieg in die USA ausgewandert.
«Zu der ohnehin ungewohnten Umgebung kamen auch die kulturellen Unterschiede der Siedler – was das Zusammenleben auch nicht vereinfachte», sagt die Historikerin Claudia Hoerschelmann. Sie arbeitet in der Dokumentationsstelle jüdische Zeitgeschichte im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Hoerschelmann traf vor einigen Jahren die inzwischen verstorbene Schweizer Jüdin Marianne Lothar, die mit ihrem deutsch-jüdischen Mann Ernst Lothar ebenfalls nach Sosua ausgewandert war. Es war eine harte Zeit. Viele wurden krank, hatten Malaria oder Tropencholera. Einige Ärzte, die sich unter den Siedlern befanden, bauten eine der Baracken in das «Medical Departement» um. Nach einem dieser Ärzte, Dr. Herbert Rosen, ist der Calle Dr. Rosen benannt.
Felix Koch hat Alzheimer. Wenn er Österreich meint, sagt er «Austria», und an die Vergangenheit kann er sich nur noch ungenau erinnern. «Und er will auch nicht mehr», fügt Ehefrau Gloria hinzu. Nur manchmal schaut er sich alte Videokassetten an, Dokumentarfilme über Trujillo, über das Sosua-Projekt. Auch jetzt läuft der Fernseher, bringt Bilder vom TrujilloAttentat in Kochs Stube. Berichte von dieser Dienstagnacht, von diesem 30. Mai 1961. Vierzig Jahre ist es her, seit die Attentäter, Männer aus Trujillos eigenen Reihen, dem Leben des «Ziegenbocks» ein Ende setzten. Felix Koch schaut und hört gebannt zu. «Ja, Trujillo, der ist schon lange tot, und das ist gut so.» Das sei nämlich auch ein Tyrann gewesen. Ein ganz schlimmer. Ein Diktator, ein Wahnsinniger – wie der Hitler. «Adolf, der Adolf Hitler, der uns alle umbringen wollte. Alle zusammen. Aber der ist jetzt tot. Und Trujillo auch. Und das ist gut.» Kochs Stimme wird lauter, aufgeregt, wütend. Der alte Mann steht auf, stellt den Fernseher ab. «So, genug jetzt, genug mit dieser Vergangenheit.» Er mag nicht über die Vergangenheit sprechen. Jetzt ist jetzt. «Ich bin glücklich, hatte ein glückliches Leben. Das zählt. Nicht wahr, Gloria? Wir sind doch glücklich, Gloria?»
Über Trujillo, den grausamen Diktator, mag niemand richtig sprechen. Teresa Hirschfeld, 48, die Tochter eines Siedlers und einer Dominikanerin – sozusagen Trujillos wahr gewordener Traum -, holt aus ihrem Büro ein Buch mit Schwarzweiss-Fotografien. Ein alter Bildband, der Trujillos grosse Taten dokumentiert: die Zuckerrohrplantagen, Arbeiter der Caribbean Motors, lächelnd, die dominikanische Schallplattenfabrik, Flugzeuge und Piloten der dominikanischen Fluggesellschaft, dann ein grosses Bild von Kindern. Es sind drei Schüler der jüdischen Schule in Sosua. Eines davon, eine etwa sieben oder achtjährige Mulattin mit frechen Zöpfen, ist Teresa. Dazwischen immer wieder Bilder eines Mannes in Uniform – Bilder vom «Wohltäter». Während Teresa später in ihrem dunkelblauen Jeep zum jüdischen Friedhof fährt, sagt sie: «Würde ich jetzt etwas Schlechtes über Trujillo sagen, müsste ich mich schämen. Ich wäre ein schlechter Mensch. Dank Trujillo durfte mein Vater weiterleben.»
Eine Etage über Teresas Büro hat die Productos Sosua GmbH ihren Hauptsitz. Von den jüdischen Siedlern gegründet, ist sie heute der grösste Milch- und Fleischproduzent des Landes. Der Geschäftsführer, der 60-jährige Joe Benjamin, stammt ursprünglich aus Breslau. Benjamins Eltern, Erich und Erna Marie, flüchteten 1939 nach Shanghai in die internationale Zone, in die man damals noch ohne Pass einreisen konnte. Dort wurde Joe Benjamin 1941 geboren. Das Leben war auch in Shanghai nicht einfach. Nach der japanischen Besetzung der Stadt wurde ein jüdisches Ghetto («Klein-Wien») errichtet – nach deutschem Vorbild. «Wir hatten sehr wenig Geld und lebten auf engstem Raum», sagt Joe Benjamin. Von Bekannten hörten seine Eltern von einer jüdischen Kolonie im Norden der Dominikanischen Republik. 1947 erreichten sie nach einer weiteren langen Schiffsreise das Fischerdorf Sosua.
Neben seiner Tätigkeit bei Productos Sosua ist Benjamin Besitzer des Hotels «Yarop». Das 1985 erbaute Haus liegt am Ende des Calle Dr. Rosen, mit Sicht aufs Meer. Durch ein grosses Fensterdach fällt Licht in das Hotel-Atrium. Das Fenster hat die Form eines Davidsterns.
Wie viele junge Juden verliess Benjamin Sosua, um in Miami zu studieren, Elektro-Ingenieur. Doch im Gegensatz zu den anderen ist er 1976 nach Sosua zurückgekehrt. «Sosua ist meine Heimat, ich vermisste meine Eltern, mein Zuhause», sagt Benjamin. Felix Kochs Wut ist verflogen. Ein bisschen verärgert ist er zwar noch, aber das hat einen anderen Grund. Der Chauffeur, der normalerweise das alte Ehepaar ausfährt, hatte heute Abend keine Zeit. Koch fährt gern aus, am besten gefällt ihm, wenn der Chauffeur zünftig aufs Gaspedal drückt. So wie er, als er noch selbst ans Steuer durfte. Das Auto steht unter dem Vordach beim Eingang, weiss, gross, mit blank polierten Stossstangen. Auf das Heck hat Koch ein Abziehbild geklebt: rot-weiss-rot – die österreichische Flagge. «Da! Austria, da komm ich her.» Felix und Gloria winken zum Abschied, bis sie aus dem Rückfenster des Taxis nicht mehr zu sehen sind.

Fluchtwege

Im Lauf von sieben Jahren kamen 700 Juden in ihrer neuen Heimat in der Dominikanischen Republik an.
1940: Route Genua-Santo Domingo. Die ersten Flüchtlinge treffen im Hafen der Hauptstadt ein.
1941: Route Lissabon-Puerto Plata. Die zweite grosse Gruppe von Juden kommt an. 1947: Route Shanghai-Puerto Plata. Die letzte Gruppe erreicht Sosua.

Flüchtlings-Konferenz

Scheinheilig

Nur Diktator Trujillo waren Juden willkommen – aus rassistischen Gründen.
Am 6. Juli 1938 trafen sich im französischen Kurort Evian Vertreter von 32 Nationen, um über Aufnahmequoten für jüdische Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland zu debattieren. Doch die auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt einberufene Konferenz im «Hotel Royal» fiel enttäuschend aus. Von den 32 Ländern war ein einziges bereit, den heimatlosen Juden Asyl zu gewähren: die Dominikanische Republik.
Der dominikanische Diktator Rafael Leonidas Trujillo versprach, insgesamt 100 000 Visa auszustellen. Die vermeintlich grosszügige Geste hatte allerdings nichts mit humanitären Gründen zu tun, sondern entsprang einzig dem gnadenlosen Kalkül Trujillos. Denn ihm war das dunkle Aussehen seiner Bevölkerung zuwider. Mit Hilfe der weissen jüdischen Siedler wollte er die Hautfarbe seiner Landsleute «aufhellen». Darum mussten 90 Prozent der Immigranten ledig, im heiratsfähigen Alter und vorzugsweise männlichen Geschlechts sein.
Zudem hoffte Trujillo durch seine Geste sein angeschlagenes politisches Ansehen aufzuwerten. Ein Jahr zuvor hatte der Diktator 20 000 Haitianer niedermetzeln lassen.
Die Ansiedlung der Juden wurde von der Dominican Republic Settlement Association (Dorsa), der dominikanischen Siedlungsgesellschaft, finanziert. Sie erwarb vom Staat 108 Quadratkilometer Land, das Diktator Trujillo für 50 000 Dollar von der United Fruit Company erworben hatte. Die Dorsa bezahlte 100 000 Dollar dafür. Kalkül: Rafael Leonidas Trujillo.


Trujillo-Porträt

Mario Vargas Llosas letzter Roman «Das Fest des Ziegenbocks» erzählt von der Tyrannei des dominikanischen Generals Rafael Leonidas Trujillo. 31 Jahre lang, von 1930 bis 1961, terrorisierte der Diktator die Dominikanische Republik. Politische Gegner verschwanden in Folterkammern, ihre Leichen wurden den Haien zum Frass vorgeworfen. Der peruanische Schriftsteller hat für seinen Roman jahrelang recherchiert, Zeitzeugen und ehemalige Mitarbeiter Trujillos befragt. Als er sein Buch im vergangenen Jahr in Santo Domingo vorstellte, wurde er beschimpft und bedroht, weil er es gewagt hat, die jüngere dominikanische Vergangenheit schonungslos zu porträtieren. Vor vierzig Jahren, am 30. Mai 1961, wurde Trujillo von einem Mann aus den eigenen Reihen erschossen.
Mario Vargas Llosa: «Das Fest des Ziegenbocks», Suhrkamp Verlag, 538 Seiten, 45.80 Franken. Fotos: Michael Friedel, Damaris Betancourt Foto: Topham Picturepoint/Baumann